Wie man das Hochrad zähmt

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Dieser Text stammt von Mark Twain, einem zeitgenössischen Schriftsteller, dem das Hochrad offensichtlich nicht erspart blieb.

Ich überlegte mir die Sache und kam zu dem Schluß, daß ich es schaffen könnte. Also ging ich runter und kaufte eine große Dose Pond's Extraktsalbe und ein Hochrad. Der Experte kam mit mir zum Unterricht nach Hause. Dort wählten wir, der Intimität halber, den Hinterhof und gingen ans Werk.

Meins war kein ausgewachsenes Hochrad, sondern nur ein Fohlen -ein Fünfzigzöller, reduziert durch die Pedale auf achtundvierzig, und bockig wie jedes andere Fohlen. Der Experte erklärte kurz die Gesichtspunkte des Dings, dann stieg er auf dessen Rücken und fuhr ein wenig herum, um mir zu zeigen, wie einfach das geht. Er sagte, daß das Absteigen die vielleicht schwierigste Sache der Welt sei, deshalb würden wir uns das bis zum Schluß aufsparen. Da hatte er sich aber getäuscht. Zu seiner freudigen Überraschung brauchte er mich nur auf der Maschine zum Rollen zu bringen und aus dem Weg zu gehen, und schon kam ich von alleine herunter. Obgleich ich doch völlig unerfahren war, stieg ich in Rekordzeit ab. Er befand sich just auf jener Seite, um die Maschine anzuschieben; krachend gingen wir alle zu Boden, er zuunterst, dann ich und obenauf die Maschine.

Wir untersuchten die Maschine, aber sie war nicht im geringsten verletzt. Das war kaum zu glauben. Doch der Experte versicherte mir, daß das stimmte; ja der Augenschein bewies es. Damals wurde mir teilweise klar, wie bewundernswert diese Dinger konstruiert sind. Wir salbten uns mit etwas Pond's Extrakt und fingen wieder an. Der Experte ging diesmal zum Anschieben auf die andere Seite, aber genau dort stieg auch ich ab, mit demselben Ergebnis wie gehabt. Die Maschine blieb unverwundet. Wir schmierten uns erneut ein und machten weiter. Diesmal begab sich der Experte in eine geschützte Stellung hinten, aber auf irgendeine Weise landete ich wieder auf ihm.

Er war voll ehrlicher Anerkennung; sagte, daß das abnorm sei. Die Maschine war vollkommen in Ordnung, nicht der kleinste Kratzer daran, kein Span bildete sich. Ich sagte, während wir uns einsalbten, dies sei wundervoll, aber er meinte, wenn ich diese Stahl-Spinnenweben erst kennenlernte, würde ich erkennen, daß nur Dynamit sie verkrüppeln könne. Dann hinkte er an seinen Platz, und einmal mehr ging es los. Dieses Mal nahm der Experte eine Auffangposition ein und gewann einen Mann dafür, hinten anzuschieben. Wir erlangten eine hübsche Geschwindigkeit und fuhren gerade über einen Stein, als ich über die Pinne flog und kopfüber auf dem Rücken des Fahrlehrers landete, wobei ich die Maschine zwischen mir und der Sonne durch die Luft flattern sah. Nur gut, daß sie auf uns landete, denn das bremste ihren Fall, so daß sie nicht zu Schaden kam.

Fünf Tage später konnte ich wieder aufstehen, und es trieb mich zum Hospital, wo ich den Experten in leidlicher Verfassung fand. Nach ein paar Tagen war ich ganz gesund. Ich führe dies auf meine weise Voraussicht zurück, immer auf etwas Weichem abzusteigen. Manche Leute empfehlen ein Federbett, aber ich finde einen Experten besser.

Der Experte - endlich genesen kam mit vier Assistenten wieder. Das war eine gute Idee. Diese vier hielten das graziöse Spinnengewebe senkrecht, während ich in den Sattel kletterte; dann formierten sie sich zu Marschsäulen auf beiden Seiten, während der Experte von hinten schob; beim Absteigen halfen alle Hände mit. Das Hochrad hatte, was man das »Eiern« nennt, und dies ziemlich schlimm. Um mich in der Fahrposition zu halten, wurde von mir ein Haufen Dinge verlangt, und jeden Augenblick war die Anforderung gegen die Natur. Gegen die Natur, aber nicht gegen die Naturgesetze. Will sagen, wie immer das Erfordernis auch sein mochte, daß mich meine Natur, Gewohnheit oder Erziehung ihm auf die eine Weise nachkommen ließ, während irgendein unverrückbares und unerwartetes Gesetz der Physik verlangte, daß es genau auf die andere Art zu machen war.

Wenn man beim Hochradfahren den Punkt erreicht hat, wo man die Maschine einigermaßen balancieren und fortbewegen und steuern kann, dann kommt die nächste Aufgabe - wie man auf sie aufsteigt. Man macht das folgendermaßen: man hüpft hinter ihr auf dem rechten Fuß drein, setzt den anderen auf die Aufsteigraste und ergreift mit den Händen die Pinne. Gesagt, getan, steigt man auf die Raste, hängt das andere auf eine pauschale und undefinierte Weise in der Luft herum, lehnt den Bauch an das Sattelende und fällt dann runter, mal auf der einen Seite oder mal auf der anderen - und noch einmal - und dann weitere Male.

Mittlerweile hat man das Gleichgewicht zu halten und auch zu steuern gelernt, ohne die Pinne mit den Wurzeln auszureißen (ich sage Pinne, weil es wirklich eine Pinne ist; »Lenkstange« ist eine viel zu lahme Beschreibung). So steuert man dahin, ein Weilchen geradeaus, dann erhebt man sich mit steter Spannung nach vorn, um das rechte Bein und dann den Körper auf den Sattel zu liften, Atem zu holen, einen heftigen Ruck hierhin und dann dorthin einzuhandeln und schon geht's wieder runter.

Aber unterdessen hat man aufgehört, auf das Runterfallen zu achten; man kommt zusehends mit beträchtlicher Gewißheit auf dem einen oder anderen Fuß auf. Sechs weitere Versuche und sechs weitere Purzler machen einen vollkommen. Nächstes Mal landet man komfortabel im Sattel und bleibt dort - das heißt, wenn man sich zufrieden gibt, die Beine baumeln und die Pedale eine Weile frei zu lassen; denn wenn man sogleich in die Pedale steigt, ist man wieder drunten. Bald lernt man, ein bißchen zu warten und das Gleichgewicht zu vervollkommnen, bevor man in die Pedale tritt. Dann ist die Aufsteigekunst erreicht, also abgeschlossen, und ein wenig Üben läßt sie einem einfach und leicht erscheinen, obgleich sich Zuschauer seitlich eine oder zwei Ruten zurückziehen sollten, falls man nichts gegen sie hat.

Und jetzt kommt man zum freiwilligen Absteigen; die andere Art hat man ja zuallererst gelernt. Es ist ganz leicht zu konstatieren, wie man das freiwillige Absteigen macht; der Worte sind wenige, die Anforderung einfach und offenbar unschwer; laß das linke Pedal nach unten gehen, bis das linke Bein fast gestreckt ist, drehe das Rad nach links und steig ab wie von einem Pferd. Es klingt gewiß extrem einfach, ist es aber nicht. Ich weiß nicht, warum es das nicht ist, doch es ist es nicht. Versuche was auch immer, man kommt nicht herunter wie von einem Pferd; man kommt herab wie aus einem brennenden Haus. Auffallen tut man jedesmal.

Acht Tage lang nahm ich täglich eine Lektion von anderthalb Stunden. Am Ende dieser zwölf Arbeitsstunden Lehrzeit war ich ausgebildet - wenigstens grob. Ich wurde für kompetent erklärt, mein eigenes Hochrad ohne Hilfe von außen zu paddeln. Diese Schnelligkeit der Errungenschaft erscheint unglaublich. Es braucht beträchtlich länger als das Pferdereiten im groben. Nun ist es richtig, daß ich ohne Lehrer hätte lernen können, aber das wäre wegen meiner natürlichen Schwerfälligkeit für mich riskant gewesen. Der selbstunterrichtete Mensch weiß selten etwas genau, ja er weiß nicht ein Zehntel dessen, das er wissen könnte, hätte er unter Lehrern gearbeitet. Also, man nehme einen Fahrlehrer - und spare viel Zeit und Pond's Extrakt.

Bevor mein Fahrlehrer sich endgültig von mir verabschiedete, fragte er nach meiner Körperkraft, und ich konnte ihn dahingehend informieren, daß ich keine besäße. Er sagte, dies sei ein Mangel, der mir das Bergauffahren zunächst ziemlich schwerfallen ließe; aber er sagte auch, daß das Hochrad hier bald Abhilfe schaffen werde. Machen Sie mit Ihren Übungen nur so weiter - Sie sind in Ordnung!« Damit verließ er mich, und ich fing an, alleine Abenteuer zu suchen. Tatsächlich muß man sie nicht suchen -dies ist bloß eine Redensart - sie kommen auf einen zu.

Ich wählte eine ruhige samstägliche Nebenstraße, die zwischen den Rinnsteinen etwa dreißig Yards breit war. Ich wußte: dies war nicht breit genug. Doch dachte ich, daß ich mich bei strikter Achtsamkeit und Platzersparnis durchquetschen könnte.

Natürlich bekam ich Ärger beim Aufsteigen auf die Maschine, ganz selbstverschuldet zwar, doch ohne moralische Unterstützung von außen, ohne mitfühlenden Fahrlehrer, der sagt: »Gut! Jetzt machen Sie's gut - wieder gut -nicht so schnell - da, jetzt, das ist richtig - nur Mut und vorwärts.« Statt dessen bekam ich andersartige Unterstützung. Dies war ein Junge, der auf einem Torpfosten hockend einen Brocken Ahornzucker kaute.

Er hatte großes Interesse und viele Kommentare. Bei meinem ersten Versagen und Runterfallen bemerkte er, wenn er an meiner Stelle wäre, würde er sich mit Kissen herausputzen, genau das würde er tun.

Als ich das nächste Mal runterkam, riet er mir, es sein zu lassen und erst ein Dreirad fahren zu lernen. Beim dritten Absturz meinte er, nicht einmal auf einem Pferdewagen könnte ich mich vermutlich halten. Doch das nächste Mal hatte ich Erfolg und kam schwerfällig in Gang auf eine schlingernde, torkelnde und unsichere Art, indem ich praktisch die ganze Straßenbreite benutzte. Meine langsame und rumpelnde Fahrweise erfüllte den Jungen mit Verachtung bis ans Kinn, und er ließ vernehmen: »Herrje, rasen Sie nicht so dahin!« Dann kam er von seinem Pfosten herunter und lief auf dem Gehweg nebenher, mich immer noch beobachtend und gelegentlich kommentierend. Jetzt wechselte er in meine Fußstapfen und folgte hinterher. Ein kleines Mädchen kam vorbei, das auf seinem Kopf ein Waschbrett balancierte, kicherte und gerade etwas sagen wollte, aber der Junge warf vorwurfsvoll ein: »Laß ihn in Ruhe, er fährt zu einer Beerdigung.«

Ich war mit dieser Straße seit Jahren vertraut und hatte immer gedacht, daß sie topfeben sei. Aber das war sie nicht, wie mich das Hochrad jetzt zu meiner Überraschung überzeugte. Das Hochrad in der Hand eines Neulings ist ebenso wachsam und schlau wie eine Wasserwaage beim Aufspüren feiner bis verschwindender Unter-schiede in ihrer Anwendung. Es stellt einen Anstieg fest, wo das eigene ungetrübte Auge nicht feststellen könnte, daß er existiert. Es bemerkt jede Senkung, in der Wasser abwärts fließt. Es brachte mich dazu, mich abzuplacken, zu keuchen und zu schwitzen. Und doch kam die Maschine, egal wie ich mich abmühte, immer wieder praktisch zum Stillstand. In solchen Augenblicken pflegte der Junge zu äußern: »Das war's! Machen Sie Rast - es pressiert nicht. Ohne Sie kann man die Beerdigung nicht anfangen.«

Steine waren mir ein Ärgernis. Selbst die kleinsten versetzten mich in Panik, wenn ich über sie fuhr. Ich konnte jede Art Steine treffen, einerlei wie klein, sobald ich sie vermeiden wollte. Und natürlich konnte ich es zuerst nicht lassen, ebendies zu versuchen. Es ist ja nur menschlich.

Es ist Teil des Deppen, der aus irgendeinem unerfindlichem Grund in jedem von uns steckt. Es kam dann zuletzt, am Ende meiner Strecke, das Erfordernis auf mich zu, eine Kehre zu fahren. Wenn man dies zum ersten Mal auf eigene Verantwortung unternimmt, ist dies keine angenehme Sache und der Erfolg nicht sehr wahrscheinlich. Das Selbstvertrauen schwindet dahin, der Kopf füllt sich mit namenlosen Befürchtungen, jede Faser ist auf Habacht gespannt, man beginnt eine vorsichtige und allmähliche Kurve, aber die verdrillten Nerven sind voller elektrischer Ängste, so daß die Kurve rasch zu einem ruckweisen und gefährlichen Zickzack demoralisiert wird. Dann wird das vernickelte Pferd plötzlich störrisch und geht schräg auf den Rinnstein zu, allen Gebeten und allen Anstrengungen widerstehend, seine Absichten zu ändern. Das Herz steht still, der Atem läßt auf sich warten, die Beine versagen den Dienst, geradewegs geht's weiter, bis nur noch ein paar Fuß zwischen dem Rinnstein und einem selbst fehlen. Und jetzt kommt der verzweifelte Augenblick, die letzte Chance, sich zu retten. Natürlich flüchten alle Anweisungen aus dem Kopf, und man wirbelt das Rad weg vom Rinnstein, statt zu ihm hin, und somit geht man auf diesem ungastlichen Granitstrand baden. Das war mein Glück, denn es war meine Erfahrung. Ich wand mich unter dem unzerstörbaren Hochrad hervor und setzte mich zur Diagnose auf den Rinnstein.

Ich begann die Rückfahrt. Erst jetzt sah ich einen mit Kohlköpfen beladenen Bauernwagen auf mich zu poltern. Wenn noch etwas die Unsicherheit meines Steuerns steigern konnte, dann genau dies. Der Bauer besetzte mit seinem Wagen die Straßenmitte und ließ dabei kaum vierzehn bis fünfzehn Yards auf jeder Seite frei. Ich konnte ihm nicht zubrüllen - ein Anfänger kann nicht brüllen. Wenn er den Mund öffnet, ist er verloren. Er muß seine ganze Aufmerksamkeit seiner Aufgabe widmen. Aber in dieser schrecklichen Notlage kam mir der Junge zur Rettung, und für diesmal bin ich ihm zu Dank verpflichtet.

Er warf einen strengen Blick auf die sich schnell ändernden Stöße und Eingebungen meines Hochrads und brüllte dem Mann entsprechend zu: »Nach links, fahr nach links, oder dieser Dummkopf wird Dich überfahren!« Der Mann begann, dies zu tun. »Nein, nach rechts, nach rechts! Halt! So geht's nicht! - nach links! - nach rechts! - nach links! -rechts! links-re - Bleib, wo Du bist, oder Du bist ein verlorener Mann!«

Und genau dann stieß ich steuerbords auf das äußere Pferd und kam zu Fall. Ich sagte: »Zum Teufel! Konnten Sie nicht sehen, daß ich komme?«

»Ja, ich sah, daß Sie kommen, aber ich konnte nicht sagen, auf welchem Weg Sie kommen. Niemand konnt's -nicht wahr? Sie konnten's selbst nicht - nicht wahr? Was also hätte ich machen sollen?«

Da war etwas dran, und ich besaß den Großmut, dies einzuräumen. Ich sagte, es war ebenso meine Schuld wie seine.

Innerhalb der nächsten fünf Tage machte ich soviel Fortschritte, daß der Junge nicht mehr mithalten konnte. Er mußte auf seinen Torpfosten zurückkehren und sich damit zufrieden geben, mich in weiter Ferne fallen zu sehen.

Quer über das eine Ende der Straße gab es eine Reihe niedriger Trittsteine in ein Yard lichtem Abstand. Selbst nachdem ich soweit gekommen war, leidlich gut zu steuern, hatte ich soviel Angst vor diesen Steinen, daß ich sie immer traf. Sie brachten mir die schlimmsten Stürze bei, die ich in jener Straße je erlebte.

Jetzt kann ich steuern, so gut ich nur will. Nimm ein Hochrad. Du wirst es nicht bereuen, falls du es überlebst.

Mark Twain (1884)

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